Mittwoch, 22. Oktober 2008
Auffrischungskurs
Themen: Büroalltag, Sprachen
Seit einigen Monaten sitze ich im Büro neben einem Russen, der sehr viel telefoniert. Auf russisch.

Ich habe ja vor etlichen Jahren mal Russisch gelernt und war vor knapp 10 Jahren immerhin noch in der Lage, einem russischen Touristen den Weg zurück zum Fährterminal zu erklären. Seitdem habe ich diese Sprache aber nicht mehr benutzt und entsprechend viel vergessen.

Seltsamerweise erinnere ich mich – von ein paar Alltagsvokabeln abgesehen – vor allem an Gedichte, die wir damals im Unterricht durchgenommen haben. Das bedeutet unter anderem, daß ich so exotische Vokabeln wie снежинка (Schneeflocke) oder мимолётный (flüchtig, vergänglich) parat habe, nicht aber beispielsweise „Tasse“ oder „Wurst“. (Außerdem kann ich immer noch bei vielen Liedern von Bulat Okudschawa mitsingen.)

Aber jetzt kriege ich ja im Büro mein tägliches Sprachbad.

Dabei fällt mir immer wieder eine Geschichte aus unserem alten Lehrbuch („Русский язык для всех“, falls sich noch jemand anders daran erinnern kann – ich fühl’ mich so alt...) ein. In der Geschichte ging es um einen Franzosen namens Jean („Жан“), der gerade von einer Rußlandreise zurückgekehrt war. Er hatte während der Reise ein paar Brocken Russisch gelernt und erzählte seinen Freunden vom Heimflug.

Beim Einstieg ins Flugzeug hielt ihm eine Flugbegleiterin eine Zeitung hin und sagte etwas, was in seinem Hirn als „bla, bla, газета, bla?“ ankam (газета = Zeitung). Er nahm die Zeitung mit den Worten „да, спасибо“ (ja, danke). Später, während des Fluges, kam dieselbe Flugbegleiterin mit einem Wägelchen mit zwei Kannen und einigen Tassen und fragte etwas, was in seinem Hirn als „bla, bla, кофе, bla, чай?“ ankam (кофе = Kaffee, чай = Tee). Er antwortete: „кофе, пожалуйста“ (пожалуйста = bitte) und bekam tatsächlich eine Tasse Kaffee überreicht. Und daheim in Frankreich platzte er vor Stolz, weil er es geschafft hatte, das alles auf russisch abzuwickeln, obwohl er doch eigentlich gar kein Russisch konnte.

In der Version, die die Flugbegleiterin daheim erzählte, hörte es sich ganz anders an: „Ich fragte den Franzosen, ob er während des Fluges eine Zeitung lesen wollte, und er antwortete, ja, gerne. Später bot ich ihm ein warmes Getränk an, und er bat um eine Tasse Kaffee.“ Daß er außer diesen paar Wörtern gar kein Russisch konnte, hatte sie gar nicht gemerkt.

An den meisten Tagen fühle ich mich wie dieser Franzose: ich verstehe in den Telefonaten meines Schreibtischnachbarn hier und da ein Wort und bin dann ganz stolz, daß ich erraten konnte, worüber er gerade redet.

Aber ich merke, daß ich mich jeden Tag an mehr Wörter und grammatische Formen erinnere. Es besteht also noch Hoffnung für mich...

(Und dann sind da noch meine Erinnerungen an meine Rußlandreise vor vielen Jahren. Auf dem Hinflug ging es mir ähnlich wie diesem Jean; die Flugbegleiterin kam mit einem Getränkewagen vorbei und sagte etwas auf russisch, und ich antwortete mit dem einzigen Getränk, das ich auf russisch nennen konnte, nämlich „лимонад“ (Limonade). Diese entpuppte sich leider als ein Gebräu, das wie Tapetenkleister mit Kohlensäure schmeckte. Bis zum Rückflug hatten sich meine Sprachkenntnisse zwar nicht wesentlich verbessert, aber immerhin hatte ich inzwischen das Wort für Saft gelernt (сок) und außerdem bemerkt, daß russische Fruchtsäfte meist sehr lecker sind, also bestellte ich einen „сок“ und durfte mich über ein wesentlich schmackhafteres Getränk als auf dem Hinflug freuen.)

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