Sonntag, 1. Mai 2011
Walpurgistag
Themen: Finnland
Heute ist Vappu, die finnische Kreuzung aus Frühlingsfest, Abiturfeier und Karneval.

Die Finnen sind ja, soweit sie sich irgendeiner Richtung des Christentums zugehörig fühlen, fast alle Protestanten. Das bedeutet unter anderem, daß die Fastenzeit hierzulande nicht so furchtbar wichtig ist und die Fastnachtstage natürlich auch nicht. (Dafür gibt es ungefähr um diese Zeit des Jahres ein anderes wichtiges Ereignis, nämlich die „Sportferien“. Da haben die Schulen eine Woche lang geschlossen, damit die Schüler sich noch mal im Schnee austoben gehen können, bevor er anfängt zu schmelzen. Außerdem gibt’s laskiaispulla, das sind Windbeutel mit Schlagsahne und entweder Marzipan- oder Marmeladenfüllung.)

Aber zum 1. Mai dreht das ganze Land dann durch. ;-)

(Gut, Deutschland dreht zum 1. Mai auch ein bißchen durch. Aber während sich in Hamburg und Berlin angeblich irgendwelche Linksextremisten Straßenschlachten mit der Polizei liefern, kommt das (vergleichsweise) bißchen Randale, was wir hier in Helsinki kriegen, vor allem dadurch zustande, daß Betrunkene sich gegenseitig umrennen und dann behaupten, der jeweils andere wäre schuld. Und dann kommt es manchmal zu kleineren Prügeleien, bei denen auch manchmal die Polizei einschreitet. Allerdings komplett ohne Wasserwerfer.)

Am 30. April geht es los mit dem Feiern. Schon am Vormittag habe ich auf dem Markt ein paar Leute gesehen, die sich „verbòòzt“ hatten (wie wir im Saarland sagen), die also verrückte Kleidung oder eine lustige Perücke trugen oder sich das Gesicht bunt angemalt hatten. Und an allen Ecken wurden Luftballons, Luftschlangen, Konfetti und ähnliches Feiertagszubehör verkauft. Hier sind zwei Luftballonverkäuferinnen, stellvertretend für die gesamte Branche:

[Bild: zwei Luftballonverkäuferinnen]

Am Nachmittag gab’s dann die offizielle Zeremonie: Ein Student wurde per Kran soweit angehoben, daß er „Havis Amanda“, einer Frauenstatue im Zentrum von Helsinki, eine Studentenmütze aufsetzen konnte. Jedes Jahr ist dafür eine andere Fachschaft zuständig, und jedes Jahr gibt es dazu einen riesigen Menschenauflauf, so daß Busse und Straßenbahnen umgeleitet werden müssen.

Tja, und wenn Amanda ihre Mütze aufhat, fängt Vappu offiziell an.

Dann ziehen die Leute los und feiern. (Ein Finne erklärte mir mal den Unterschied zwischen den beiden großen Sommer-Feiertagen: „An Vappu fahren wir in die Stadt und saufen uns zu. An Mittsommer dagegen fahren wir aufs Land und saufen uns zu.“) Den Zeitungen zufolge mußten die Sanitäter sich dieses Jahr allerdings um weniger Schnapsleichen kümmern als in den letzten Jahren, das heißt wohl, daß die Leute sich dieses Jahr mehr aufs Konfettiwerfen und Tanzen konzentriert haben. ;-)

Und am Morgen kommen dann die Straßenfeger und freuen sich über die vielen leeren Pfandflaschen, die überall herumliegen. Hoffe ich zumindest, denn den ganzen restlichen Feiertagsmüll müssen sie ja auch noch wegräumen...

Das traditionelle Getränk zu Vappu ist Sima, diese finnische „Honiglimonade“, die zwar „Met“ heißt, aber etwas völlig anderes ist als das, was man in Deutschland unter „Met“ versteht. (Hauptunterschiede: Sima wird gut gekühlt serviert; Sima enthält Kohlensäure; Sima ist so gut wie alkoholfrei.) Ich habe dieses Jahr drei große Flaschen besorgt (eine mit Ingwerzusatz und zwei normale nur mit Honig und Zitrone) und überlege so für mich, ob ich nicht mal wieder eigenes Sima ansetzen sollte. Das Zeug schmeckt nämlich echt gut und ist auch ziemlich leicht zu brauen.

Aber nicht alle Leute gehen an diesem Abend raus zum Feiern; es gibt auch private Vappu-Partys, die ganz unterschiedlich aussehen können. Je nach Geschmack der Anwesenden halt. Ich war mal auf einer eingeladen, wo wir nett zu Abend aßen und dann bis tief in die Nacht redeten und Musik hörten und diverse Gesellschaftsspiele spielten.

Tja, und am 1. Mai, dem eigentlichen Vappu-Tag (das gestern war Vapunaatto, wörtlich „Vappu-Vorabend“), gehen die Leute den Frühling genießen.

Gestern sah es eine Weile so aus, als ob das ins Wasser fallen würde...

[Bild: dunkle Wolken ziehen auf]

... aber dann regnete es doch nur ein bißchen (ich war zu der Zeit draußen und brauchte nicht einmal einen Regenschirm aufzuspannen) und bald klarte es schon wieder auf.

Jetzt ist es zwar kühl, aber ziemlich sonnig. Das heißt, all die Leute, die der Tradition folgen und heute ein Picknick im Park machen (und den Frühling genießen, jaja), müssen sich zwar etwas wärmer anziehen, aber wenigstens werden sie nicht naß. :-)

Allerdings wäre Regen natürlich gut für uns Allergiker. Die Weidenallergiker tun mir leid; diese Bäume blühen gerade ziemlich intensiv...

[Bild: Weidenbaum in voller Blüte]

... und manche Bäume sind sogar so frech, den Allergikern den Stinkefinger zu zeigen!

[Bild: Weidenbaum in voller Blüte]

Andere Bäume sind da etwas freundlicher.

[Bild: Knospe mit Blütenstand und rötlichen Blättern]

[Bild: Zweig mit Blätterknospen]

Manche Bäume scheinen noch richtig viel vorzuhaben in diesem Frühling...

[Bild: Zweig mit Blätterknospen]

Der Flieder, von dem ich letzte Woche eine noch fast ganz geschlossene Knospe fotografierte, ist jetzt auch schon viel weiter. Naja, man muß bedenken, daß bei uns der Flieder etwa Anfang/Mitte Juni blühen wird! Dieser Strauch liegt also ganz gut in der Zeit. Jetzt können sich die Blütenknospen in den nächsten vier bis sechs Wochen in aller Ruhe entfalten.

[Bild: Blütenknospen am Fliederstrauch]

[Bild: Blütenknospen am Fliederstrauch]

[Bild: Blütenknospen am Fliederstrauch]

Unten am Boden blüht’s natürlich auch immer noch... hierbei scheint es sich um eine Art wilden Verwandten des Krokusses zu handeln. Oder sowas in der Art. <rätsel> Aber egal, hübsch sind sie jedenfalls, diese Blümchen.

[Bild: gelbe Wiesenblumen]

Und die Vögel freuen sich, daß sie jetzt auf den schneefreien Wiesen endlich wieder an die ganzen leckeren Würmer rankommen.

[Bild: Wacholderdrossel auf Wiese]

Der Vogel auf diesem Bild ist eine Wacholderdrossel. Ich kann mich nicht erinnern, in Deutschland jemals eine gesehen zu haben, aber hier ist es eine der häufigsten Vogelarten. Deshalb kannte ich von diesem Vogel bis gestern, als ich endlich mal das Wörterbuch zur Hand nahm, tatsächlich nur den finnischen Namen...

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Allein ist nicht dasselbe wie einsam
Themen: Neuro-Psycho
Zu diesem Thema muß ich mir noch mehr Gedanken machen. Das hier ist jetzt nur so mehr oder weniger ins Blaue gedacht.

Auslöser war eine Diskussion auf Twitter, die wiederum von einem Rundfunkbeitrag über Autismus ausgelöst wurde, in dem es zwar vordergründig darum ging, für mehr Verständnis für Autisten in der „normalen“ Welt zu sorgen, wo sie dann aber wirklich kaum ein Klischee ausgelassen haben.

Beim ersten Anhören fand ich den Beitrag gar nicht so schlimm. Anscheinend besitzt mein Gehirn einen Filter, in dem die ganzen üblen Klischees und Pauschalisierungen hängen bleiben, wenn mich nicht gerade jemand direkt darauf hinweist. ;-)

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Lustig: Auf schwedisch werden die Grenzen zwischen den Wörtern und Konzepten ganz anders gezogen als im Deutschen. Ensam hat viele Bedeutungen, unter anderem „einsam“ und auch „allein“, aber in bestimmten Kontexten kann es sogar „der/die/das einzige“ oder „ausschließlich“ bedeuten. Wenn ich sage, daß ich „ensam“ wohne, wird das zuallererst einmal als „ich habe keine Mitbewohner“ verstanden. Wenn ich ausdrücken will, daß ich mich einsam fühle, muß ich mich ein bißchen anstrengen und beispielsweise einen Ausdruck wie övergiven („verlassen“) benutzen.

Gleich auf der ersten Seite ihres Buches „Vem ska trösta knyttet?“ verwendet Tove Jansson innerhalb von nur zwei Zeilen das Wort ensam in gleich drei verschiedenen Bedeutungen: Der Protagonist der Geschichte wohnt (erstens) ohne Mitbewohner in einem (zweitens) abgelegenen Haus und fühlt sich abends immer (drittens) ganz einsam.

Im Finnischen gibt es das schöne Wort orpo, das als Substantiv „Waise“ bedeutet und als Adjektiv „einsam und verlassen“. Also im Sinne des Sich-so-Fühlens, nicht des Der-Einzige-im-Zimmer-Seins.

Hach, Fremdsprachen sind etwas Schönes. :-)

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Wenn ich mich einsam fühle, und das kommt manchmal vor, dann fühle ich mich vom Rest der Welt abgeschnitten. Manchmal habe ich dann das Gefühl, die Welt gäbe es gar nicht, oder es gäbe sie zwar, aber sie hätte mit mir nichts zu tun. Manchmal fühlt es sich eher so an, als ob in der Welt nichts und niemand wäre, was/wer irgendwie mit mir zu tun hätte, daß ich also buchstäblich „einsam und verlassen“ wäre.

Naja, „orpo“ eben.

Aber das ist ein Depressionssymptom. In den meisten Situationen, wo ich ganz allein bin, fühle ich mich ziemlich wohl und gar nicht einsam.

Leider verstehen das viele Leute nicht. Was mich wirklich erschreckt hat: Bei einem Fachvortrag fragte mich eine Psychologin (!) im Publikum ganz ungläubig, ob ich das ernst gemeint hatte, als ich gesagt hatte, daß meine beste Freundin in Österreich wohnt (also in Pi mal Daumen 1000 km Entfernung), und wie das denn sein könne, daß jemand, der so weit weg wohnt, meine „beste Freundin“ sein könnte.

Ähm. Hat diese Frau denn noch nie von Telefon und Internet gehört? Muß ich wirklich jemandem ständig physisch auf der Pelle sitzen, um ihm zu zeigen, daß ich auch weiterhin mit ihm befreundet sein will?

An vielen Tagen besteht für mich das ganze Ausmaß an Kontakt mit der Außenwelt darin, daß ich
  • aus dem Fenster gucke und draußen Leute sehe und
  • ab und zu Geräusche im Treppenhaus höre, wenn ein Nachbar weggeht oder heimkommt, und
  • wenn ich die Ohren spitze, das leise Gemurmel des Radios in der Nachbarwohnung wahrnehme (falls die Nachbarin zu Hause ist) und
  • im Internet z. B. Zeitung lese (die ja vermutlich von irgendwem geschrieben wurde)
... und so richtig eng wird dieser Kontakt, wenn mir jemand beispielsweise eine Mail schickt oder ich (neuerdings) irgendwelche Tweets nicht einfach nur ziellos in die Welt hinausschicke, sondern auf einen Tweet von jemandem antworte oder jemand auf einen Tweet von mir antwortet.

Und ich fühle mich nicht einsam. Ich fühle mich ungestört.

Daß es andere Leute gibt, zu denen ich bei Bedarf womöglich sogar Kontakt aufnehmen kann, merke ich ja daran, daß ab und zu aus dem Treppenhaus Schritte oder Gesprächsfetzen in meine Wohnung dringen. Und am nachbarlichen Radio-Gemurmel. Und an den Leuten vorm Fenster.

Fast direkt unterhalb meines Küchenfensters ist ein Spielplatz. Für manche anderen Leute wäre das ein Grund gewesen, nicht in diese Wohnung einzuziehen... Ich find’s aber toll, wenn ich im Sommer das Fenster auf habe und höre, wie draußen die Kinder spielen. Manchmal wird das sogar ziemlich laut, weil sie sich ja nicht unbedingt an die Grenzen des Spielplatzgeländes halten, sondern auch mal auf die Wiese direkt unterm Fenster laufen und dort weiterspielen. (Hier ist das Betreten des Rasens nämlich nicht verboten, und das ist auch gut so.)

An vielen Tagen wird mein Bedarf an zwischenmenschlichem Kontakt durch Kinderlachen oder Radiogemurmel vollständig gedeckt.

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Daß es auf Mittsommer zugeht, merke ich im Sommer immer daran, daß es draußen auf einmal so still ist. Klar; die Kinder sind alle mit ihren Eltern ein oder zwei Wochen aufs Land gefahren.

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Mein Großonkel, ein notorischer Eigenbrötler, zitierte immer Wilhelm Busch: „Wer einsam ist, der hat es gut / weil keiner da, der ihm was tut.“

Schopenhauer drückt es ohne Reim so aus: „Ganz er selbst sein darf jeder nur, solange er allein ist. Wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit; denn nur wenn man allein ist, ist man frei!“

Von Schopenhauer gibt es auch noch ein etwas drastischeres Zitat zum Thema: „Was nun andererseits die Menschen gesellig macht ist ihre Unfähigkeit, die Einsamkeit, und in dieser sich selbst, zu ertragen.“

Mir tun diese Leute leid, die es nicht schaffen, auch nur wenige Minuten allein mit sich selbst zu verbringen. :-(

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In irgendeinem Psychologiebuch habe ich mal gelesen, daß introvertierte Menschen (huiiii, da schreibt jemand über mich!) in ihrem Kopf ständig einen „inneren Monolog“ am Laufen haben und extrovertierte Menschen haben entweder keinen solchen Monolog im Gehirn oder sie nehmen ihn nicht wahr; ganz genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern.

Ich kann mir das gar nicht vorstellen, wie es wohl ist mit solcher Stille im Kopf. Das wäre für mich schrecklich und hätte ziemlich viel mit Einsamkeit zu tun.

Andererseits würde es natürlich erklären, warum es Extrovertierten so schwer fällt, selbst für kurze Zeit „mit sich selbst allein“ zu sein... die haben dann ja im Gegensatz zu uns Introvertierten nicht einmal sich selbst zur Gesellschaft! Die Ärmsten. :-(

In meinem Kopf ist dieser „innere Monolog“ oft eher ein angeregtes Gespräch als ein Monolog im engeren Sinne. Das ist nicht leicht zu beschreiben... Es gab mal eine britische Zeichentrickserie namens Captain Star, wo eine der Hauptfiguren nach einem Unfall mit irgendwas Radioaktivem mutiert war und seitdem neun Köpfe und sechs Arme hat. Diese neun Köpfe unterhalten sich oft untereinander und lassen sich dabei nicht im geringsten von der Tatsache stören, daß sie ja eigentlich zur selben Person gehören und nur recht selten unterschiedlicher Meinung sind.

So ähnlich hört sich das in meinem Kopf an. Wie kann man da einsam werden? :-)

(Fortsetzung folgt... eventuell.)

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