Sonntag, 8. August 2010
Positive und negative Gedanken
Themen: Neuro-Psycho
sileas, 19:08h
Aus aktuellem Anlaß:
Eine Freundin sagte mir neulich, daß sie es klasse findet, wie ich es trotz allem immer wieder schaffe, die schönen Sachen in meinem Leben zu sehen bzw. zu finden. Also obwohl ich ja eigentlich klinisch depressiv bin und außerdem eine generalisierte Angststörung habe... das ist die Krankheit, bei der man ganz mühelos in der Lage ist, vor wirklich allem Angst zu haben, sogar vor dem eigenen Schatten...
Also habe ich beschlossen, darüber mal ein paar Worte zu schreiben. Und zwar einerseits für die anderen Leute in meinem Bekanntenkreis, die womöglich dasselbe denken, es mir aber noch nicht gesagt haben, und andererseits für alle, die hier womöglich sonst noch mitlesen und sich wundern, wie jemand einerseits behaupten kann, klinisch depressiv zu sein, und andererseits über solche banalen Sachen wie zufällig in der Firmenküche gefundene Krabbenchips oder Umhängetaschen mit Igelmotiv in Freudentaumel ausbrechen kann.
Hmm, wo soll ich anfangen...?
Erstens habe ich ja nicht nur meine Depression und meine Angstneurose, sondern auch noch ein paar andere Sachen, die mir paradoxerweise helfen, damit umzugehen.
Mein ADHS macht mich leicht ablenkbar; das heißt, manchmal verfalle ich allein deswegen nicht in tiefe Depressionen, weil z. B. eine Fliege vorbeifliegt und mich ablenkt, und dann kommen interessante Geräusche aus der Nachbarwohnung und lenken mich ab, und dann muß ich aufs Klo, und dabei bemerke ich, daß die Seife im Bad fast alle ist, und gehe rüber in die Küche, wo ich meinen Einkaufszettel aufbewahre, und in der Küche merke ich dann, daß ich auf dem langen Weg aus dem Bad (über 5 m zu Fuß!) vergessen habe, was ich eigentlich in der Küche wollte, und beschließe, mir stattdessen ein Glas Milch einzuschenken und ein wenig Geschirr zu spülen, usw. usf., und mit all dem habe ich dann mit etwas Glück soviel Zeit verplempert, daß es der beginnenden Depression langweilig wurde und sie sich verflüchtigt hat. Mit noch etwas mehr Glück schaffe ich es sogar, das Glas Milch nicht auf dem Küchentisch zu vergessen...
Und mein Asperger (OK, ohne offizielle Diagnose müßte ich eigentlich sagen: meine autistischen Züge) hindert mich daran, bestimmte Sachen, über die sich andere Leute grämen können, überhaupt wahrzunehmen – beispielsweise kann ich andere Leute und ihre Motivationen extrem schwer einschätzen, was mir zwar oft genug mein Leben schwerer macht, als es sein könnte, aber andererseits gehen solche Informationen wie „Kollege X und Kollege Y haben sich anscheinend verkracht und bemühen sich jetzt angestrengt, das niemanden merken zu lassen“ (und die für die meisten „normalen“ Leute darauf folgenden Überlegungen, was zwischen denen wohl vorgefallen sein mag, und Anstrengungen, sich seinerseits nicht anmerken zu lassen, daß man die dicke Luft zwischen den beiden bemerkt hat) an mir meist völlig vorbei.
(Ja, das meine ich alles ernst. Ablenkbarkeit und Nicht-Mitbekommen relevanter sozialer Informationen machen einem zwar, wie gesagt, das Leben nicht unbedingt immer leichter, aber andererseits können sie manchmal erstaunlich nützlich sein. Man bekommt zwar immer wieder irgend etwas auf die eine oder andere Weise Wichtiges nicht mit, aber andererseits bekommt man auch immer wieder irgend etwas nicht mit, worüber man sich sonst unnötig aufgeregt oder Sorgen gemacht hätte.)
Zweitens habe ich meine diversen Syndrome ja auch schon etwas länger (die Diagnosen kamen so nach und nach um das Jahr 2000 herum, waren aber eigentlich nur offizielle Bestätigungen von Sachen, die ich teils schon jahrelang, teils sogar schon mein ganzes Leben lang – oder zumindest solange ich zurückdenken kann – gehabt hatte) und hatte daher mehr als genug Zeit, um zu lernen, damit umzugehen. Beispielsweise habe ich irgendwann gemerkt, daß eine Depression nicht unbedingt bedeutet, daß man immer nur traurig in der Gegend herumsitzt. Nein, das Ganze hat auch positive Aspekte – man muß sie nur wahrnehmen.
Anscheinend gibt es zwei Grundtypen von Depression bzw. depressiver Episode: einen, bei dem man kaum oder gar keine Gefühlsregungen hat, und einen, bei dem man in tiefer Traurigkeit versinkt – also eine extreme, leider aber extrem negative, Gefühlsregung. Ich habe irgendwann gemerkt, daß die tiefe Traurigkeit nicht etwa bedeutet, daß ich „ein trauriger Mensch“ wäre oder so; nein, ich kann tiefe Traurigkeit empfinden, weil ich grundsätzlich tiefe Gefühlsregungen empfinden kann. Tiefe Freude kann ich nämlich auch empfinden. Und ich habe mir angewöhnt, auf die ganz bewußt zu achten, damit ich mich in den depressiven Phasen daran erinnern kann, daß es neben dieser blöden Dunkelheit auch noch Licht und eine Menge tolle Farben gibt. („Tiefe Freude“, seltsamer Ausdruck, ich weiß. Aber auf die Schnelle fällt mir nichts Besseres ein, oder zumindest nichts, was neben „tiefe Traurigkeit“ gut klingen würde.)
Die Variante, bei der man überhaupt keine oder nur ganz winzige Gefühlsregungen hat, ist ebenfalls unangenehm, wenn auch natürlich auf eine völlig andere Weise als so eine tiefe Traurigkeit. Der Vorteil bei so einer Abwesenheit von Gefühlsregungen ist: Man empfindet dabei auch keine starken negativen Gefühle. (Für mich als Angstneurotikerin heißt das vor allem: wenn ich depressiv bin, rege ich mich wenigstens über so gut wie nichts auf.)
Und drittens kenne ich einige nette Leute, die mich immer wieder aufmuntern. Einige von denen lesen hier sogar mit. :-)
Das Lustige ist, daß ich oft von jemandem aufgemuntert werde, der noch gar nicht weiß, daß ich das gerade zu diesem Zeitpunkt brauche. Daß also beispielsweise eine Mail von jemandem eintrifft, den ich mag, und zwar zufällig gerade zu einem Zeitpunkt, an dem es mir schlecht geht, aber bevor ich Gelegenheit hatte, das irgend jemandem (oder gar dem Absender der Mail) zu erzählen. Oder daß ich mit einer schwarzen Gewitterwolke über dem Kopf das Haus verlasse, beispielsweise um den Müll wegzubringen, und dabei zufällig der einen Nachbarin über den Weg laufe, die mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zuquatscht (ich muß die Frau irgendwann mal fragen, ob sie wirklich sicher ist, daß sie Finnin ist, denn die sind ja normalerweise eher schweigsam), und die mich daraufhin so intensiv zuquatscht, daß die Gewitterwolke die Flucht ergreift.
Ich habe eine Freundin, mit der ich öfters per SMS kommuniziere. Manchmal schickt sie mir eine ganz kurze SMS, die womöglich nur aus einem Smilie besteht – beispielsweise zum Abschluß einer Konversation oder als Nachtrag, um mir mitzuteilen: die Sache, von der ich dir erzählt habe, ist gut gelaufen. Diese Mini-SMSe hebe ich mir nach Möglichkeit auf, damit ich sie bei Bedarf (also wenn ich irgendwie schlecht drauf bin) noch einmal ansehen und mich dann hoffentlich besser fühlen kann.
Viertens habe ich dank jahrelanger Therapie meine Depression und meine Ängste recht gut im Griff. Antidepressiva habe ich in meinem ganzen Leben erst dreimal genommen:
Glücklicherweise hat sich herausgestellt, daß die Stimulantien, die man als Mensch mit ADHS so zu sich nimmt, auch gegen Angst wirken. Oder zumindest gegen meine. (Ich habe schon seit längerer Zeit die Vermutung, daß meine Angstneurose eigentlich nur etwas ist, was sich mein hyperaktives und zur Langeweile neigendes ADHSler-Hirn sozusagen „gebastelt“ hat, um der Langeweile vorzubeugen. Diese Vermutung wird von der Beobachtung gestützt, daß meine Ängste deutlich abnahmen, sobald ich mit einer halbwegs zielgerichteten ADHS-Therapie – Methylphenidat plus explizit auf ADHS ausgerichtete Psychotherapie – anfing, während sie sich von der vorangegangenen eher auf typische Angstneurosen mit komorbider Depression (oder umgekehrt) ausgerichteten Therapie nicht im geringsten beeindruckt gezeigt hatten. Inzwischen langt als Stimulans an weniger stressigen Tagen, z. B. am Wochenende, auch eine große Tasse Grüntee zum Frühstück.)
Und sobald meine Therapeutin merkte, daß ich auf Antidepressiva eher nicht so sehr anspreche und die Depression auch keinerlei Anstalten machte, von selber wieder zu verschwinden, hat sie die Therapie dahingehend ausgerichtet, daß ich lernen sollte, mit der Depression zu leben. So habe ich über die Jahre einiges Nützliche gelernt. Unter anderem das Finden und Wahrnehmen von positiven Sachen. :-)
(Und ich habe gelernt, zu akzeptieren, daß ich anscheinend eine eher traurige Grundhaltung habe. Na und? Dann bin ich halt Bernd das Brot und nicht Chili das Schaf...)
Fünftens gehörte zu dieser Therapie (wie schon angedeutet) unter anderem, daß ich aufpaßte, was mir Freude macht – und was mir womöglich soviel Freude macht, daß ich mich damit sozusagen an meinen eigenen Haaren (wie Münchhausen aus dem Sumpf) aus einer beginnenden Depression hinausziehen kann. Und daß ich darauf achtete, von diesen Sachen immer wenigstens ein paar bei der Hand zu haben. (Das ist der „Werkzeugkasten“, den ich neulich erwähnt habe!)
Also habe ich zu Hause eine ganze Sammlung von CDs und DVDs mit Musik und Filmen, die mich irgendwie erfreuen. Und ich habe in der Küche einige Nahrungsmittel, die sich auf meine Stimmung irgendwie positiv auswirken. (Mal ganz davon abgesehen, daß ich darauf achte, immer genügend Flüssigkeit zu mir zu nehmen. Ein Bekannter eines Bekannten hat seine Depression dadurch überwunden, daß er sich angewöhnt hat, jeden Tag mindestens vier Liter Wasser zu trinken. Bei mir funktioniert das leider nicht, aber ich kann immerhin meine Stimmung drastisch verbessern, indem ich mich einfach immer hinreichend stark hydriere.) Und ich habe eine Menge Bücher, die mich in verschiedenen negativen Stimmungslagen irgendwie aufheitern oder sonstwie erfreuen. Und da, wo ich wohne, gibt es eine Menge schöne Spazierwege. Undsoweiter.
So bin ich also nicht darauf angewiesen, daß mir das Leben bzw. das Universum irgend etwas vorlegt, was mich irgendwie erfreut, sondern ich kann mir selber eine Freude bereiten, wenn ich mal eine brauche. Gut, manchmal ist die negative Stimmung soweit fortgeschritten, daß ich nicht mehr selber darauf komme, sondern einen Schubser brauche; z. B. einen Anruf von einem Freund, der mir dann sagt: koch dir doch eine Tasse Tee oder hör schöne Musik oder geh spazieren oder... Und natürlich passiert das in den seltensten Fällen, daß zufällig genau zum richtigen Zeitpunkt jemand anruft, der mir so einen guten Rat geben kann. Aber über die Jahre hat es sich ergeben, daß ich in meiner Wohnung erstens lauter kleine Hinweise auf solche Sachen herumliegen habe, die mich erfreuen könnten (da schweift mein depressiver Blick ziellos in der Gegend herum und bleibt z. B. an einem DVD-Box-Set hängen, bis mein Gehirn merkt, daß ich die Dinger ja eigentlich auch mal wieder angucken könnte), und zweitens diejenigen Sachen, die ich auch im normalen (also nicht-depressiven) Alltag brauche, immer griffbereit habe – zum Beispiel eine große Flasche Wasser oder Saft. Wie gesagt, wenn ich mich immer gut mit Flüssigkeit versorge, ist das schon mal ein solides Fundament für eine halbwegs gute Stimmung.
Sechstens: Ich weiß ganz genau, wer ich bin. Die meisten Menschen wissen das von sich nicht. Aber die meisten Menschen waren auch noch nie gezwungen, sich selbst ganz genau anzuschauen und dabei auch in die tiefen Abgründe in ihrem Innern zu sehen, weil die meisten Menschen halt weder Depression noch Angstneurose haben. Aber diese detaillierte Selbst-Kenntnis hilft mir sehr dabei, mit mir selbst und der Welt und dem Leben an sich klarzukommen. Ich habe beim Mich-Selbst-Erforschen ja auch nicht nur dunkle Abgründe gefunden, sondern auch (sozusagen) vergrabene Schätze. Und so kann man paradoxerweise sagen: Meine Depression hat mich zum Glücklicher-Werden gezwungen. Natürlich bin ich nicht ständig glücklich, aber das sind Nicht-Depressive ja auch nicht. (Es sei denn, sie haben eine unipolare Manie!)
Manchmal fühle ich mich ein bißchen wie Sara, die eine der beiden Orakel-Schwestern in American Dragon; das ist diejenige, die immer nur schlimme Sachen voraussieht und dennoch immer blendend gelaunt ist. Ihre Schwester Kara sieht immer nur gute Sachen voraus und ist immer schlecht gelaunt. Die beiden erklären das so: Kara ist immer griesgrämig, weil ihr Alltag im Vergleich zu all den tollen Sachen in ihren Visionen doch arg unbefriedigend ist. Sara dagegen vergleicht ihren Alltag (der mit dem von Kara mehr oder weniger identisch ist) mit den gräßlichen Sachen in ihren Visionen, und der Vergleich fällt natürlich sehr positiv aus, und deshalb ist sie immer fröhlich.
Siebtens: Vorbilder. Meine Mutter war ein großer Fan von Paul Gerhardt, von dem eine ganze Menge auch heute noch gesungene Lieder (vor allem Kirchenlieder) stammen; unter anderem „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“. Das muß man sich mal vorstellen: Der Mann lebte in einer postapokalyptischen Landschaft (Europa während und kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg, in dem ja ganze Dörfer ausgelöscht wurden) und schrieb Gedichte über die Schönheit von Tulpen... Solche und ähnliche Gedanken haben mir schon durch so manche depressive Phase geholfen und mich auch angeregt, selber mal zu versuchen, in meiner „postapokalyptischen Landschaft“ meine eigenen „schönen Tulpen“ zu finden.
(Wenn wir schon mal bei christlicher Dichtung sind, kann ich auch noch meine Bibel herauskramen: Wenn die Autorenzuordnung bei den Psalmen akkurat ist, dann kann ich mich außer an den Liedern und Gedichten von Paul Gerhardt auch daran trösten, daß der offenbar tief depressive Mensch, der den 69. Psalm geschrieben hat (die ersten paar Verse enthalten eine blumige, aber sehr treffende Beschreibung einiger typischer Depressionssymptome), derselbe war, der auch den 23. Psalm („Der Herr ist mein Hirte“) geschrieben hat.)
Und last but not least: Ich bin Meisterin im Verdrängen. ;-) Das schiebe ich wieder auf das gute alte ADHS... Wenn man hinreichend schnell von hinreichend vielen Sachen abgelenkt wird, fällt das, woran man ursprünglich dachte, irgendwann aus dem Arbeitsspeicher hinaus. Das ist oft natürlich (gelinde gesagt) nicht so furchtbar wünschenswert; aber wenn das, woran man ursprünglich dachte, hinreichend nervig (oder furchterregend oder deprimierend) ist, kann es echt praktisch sein...
Aber das habe ich ja schon oben unter „Erstens“ erwähnt. Soviel zum Thema Ablenkbarkeit... m(
Nachtrag: Das kryptische Knoddelzeichen am Ende des letzten Absatzes ist ein Smilie, das sich frustriert mit der Hand auf die Stirn haut.
Eine Freundin sagte mir neulich, daß sie es klasse findet, wie ich es trotz allem immer wieder schaffe, die schönen Sachen in meinem Leben zu sehen bzw. zu finden. Also obwohl ich ja eigentlich klinisch depressiv bin und außerdem eine generalisierte Angststörung habe... das ist die Krankheit, bei der man ganz mühelos in der Lage ist, vor wirklich allem Angst zu haben, sogar vor dem eigenen Schatten...
Also habe ich beschlossen, darüber mal ein paar Worte zu schreiben. Und zwar einerseits für die anderen Leute in meinem Bekanntenkreis, die womöglich dasselbe denken, es mir aber noch nicht gesagt haben, und andererseits für alle, die hier womöglich sonst noch mitlesen und sich wundern, wie jemand einerseits behaupten kann, klinisch depressiv zu sein, und andererseits über solche banalen Sachen wie zufällig in der Firmenküche gefundene Krabbenchips oder Umhängetaschen mit Igelmotiv in Freudentaumel ausbrechen kann.
Hmm, wo soll ich anfangen...?
Erstens habe ich ja nicht nur meine Depression und meine Angstneurose, sondern auch noch ein paar andere Sachen, die mir paradoxerweise helfen, damit umzugehen.
Mein ADHS macht mich leicht ablenkbar; das heißt, manchmal verfalle ich allein deswegen nicht in tiefe Depressionen, weil z. B. eine Fliege vorbeifliegt und mich ablenkt, und dann kommen interessante Geräusche aus der Nachbarwohnung und lenken mich ab, und dann muß ich aufs Klo, und dabei bemerke ich, daß die Seife im Bad fast alle ist, und gehe rüber in die Küche, wo ich meinen Einkaufszettel aufbewahre, und in der Küche merke ich dann, daß ich auf dem langen Weg aus dem Bad (über 5 m zu Fuß!) vergessen habe, was ich eigentlich in der Küche wollte, und beschließe, mir stattdessen ein Glas Milch einzuschenken und ein wenig Geschirr zu spülen, usw. usf., und mit all dem habe ich dann mit etwas Glück soviel Zeit verplempert, daß es der beginnenden Depression langweilig wurde und sie sich verflüchtigt hat. Mit noch etwas mehr Glück schaffe ich es sogar, das Glas Milch nicht auf dem Küchentisch zu vergessen...
Und mein Asperger (OK, ohne offizielle Diagnose müßte ich eigentlich sagen: meine autistischen Züge) hindert mich daran, bestimmte Sachen, über die sich andere Leute grämen können, überhaupt wahrzunehmen – beispielsweise kann ich andere Leute und ihre Motivationen extrem schwer einschätzen, was mir zwar oft genug mein Leben schwerer macht, als es sein könnte, aber andererseits gehen solche Informationen wie „Kollege X und Kollege Y haben sich anscheinend verkracht und bemühen sich jetzt angestrengt, das niemanden merken zu lassen“ (und die für die meisten „normalen“ Leute darauf folgenden Überlegungen, was zwischen denen wohl vorgefallen sein mag, und Anstrengungen, sich seinerseits nicht anmerken zu lassen, daß man die dicke Luft zwischen den beiden bemerkt hat) an mir meist völlig vorbei.
(Ja, das meine ich alles ernst. Ablenkbarkeit und Nicht-Mitbekommen relevanter sozialer Informationen machen einem zwar, wie gesagt, das Leben nicht unbedingt immer leichter, aber andererseits können sie manchmal erstaunlich nützlich sein. Man bekommt zwar immer wieder irgend etwas auf die eine oder andere Weise Wichtiges nicht mit, aber andererseits bekommt man auch immer wieder irgend etwas nicht mit, worüber man sich sonst unnötig aufgeregt oder Sorgen gemacht hätte.)
Zweitens habe ich meine diversen Syndrome ja auch schon etwas länger (die Diagnosen kamen so nach und nach um das Jahr 2000 herum, waren aber eigentlich nur offizielle Bestätigungen von Sachen, die ich teils schon jahrelang, teils sogar schon mein ganzes Leben lang – oder zumindest solange ich zurückdenken kann – gehabt hatte) und hatte daher mehr als genug Zeit, um zu lernen, damit umzugehen. Beispielsweise habe ich irgendwann gemerkt, daß eine Depression nicht unbedingt bedeutet, daß man immer nur traurig in der Gegend herumsitzt. Nein, das Ganze hat auch positive Aspekte – man muß sie nur wahrnehmen.
Anscheinend gibt es zwei Grundtypen von Depression bzw. depressiver Episode: einen, bei dem man kaum oder gar keine Gefühlsregungen hat, und einen, bei dem man in tiefer Traurigkeit versinkt – also eine extreme, leider aber extrem negative, Gefühlsregung. Ich habe irgendwann gemerkt, daß die tiefe Traurigkeit nicht etwa bedeutet, daß ich „ein trauriger Mensch“ wäre oder so; nein, ich kann tiefe Traurigkeit empfinden, weil ich grundsätzlich tiefe Gefühlsregungen empfinden kann. Tiefe Freude kann ich nämlich auch empfinden. Und ich habe mir angewöhnt, auf die ganz bewußt zu achten, damit ich mich in den depressiven Phasen daran erinnern kann, daß es neben dieser blöden Dunkelheit auch noch Licht und eine Menge tolle Farben gibt. („Tiefe Freude“, seltsamer Ausdruck, ich weiß. Aber auf die Schnelle fällt mir nichts Besseres ein, oder zumindest nichts, was neben „tiefe Traurigkeit“ gut klingen würde.)
Die Variante, bei der man überhaupt keine oder nur ganz winzige Gefühlsregungen hat, ist ebenfalls unangenehm, wenn auch natürlich auf eine völlig andere Weise als so eine tiefe Traurigkeit. Der Vorteil bei so einer Abwesenheit von Gefühlsregungen ist: Man empfindet dabei auch keine starken negativen Gefühle. (Für mich als Angstneurotikerin heißt das vor allem: wenn ich depressiv bin, rege ich mich wenigstens über so gut wie nichts auf.)
Und drittens kenne ich einige nette Leute, die mich immer wieder aufmuntern. Einige von denen lesen hier sogar mit. :-)
Das Lustige ist, daß ich oft von jemandem aufgemuntert werde, der noch gar nicht weiß, daß ich das gerade zu diesem Zeitpunkt brauche. Daß also beispielsweise eine Mail von jemandem eintrifft, den ich mag, und zwar zufällig gerade zu einem Zeitpunkt, an dem es mir schlecht geht, aber bevor ich Gelegenheit hatte, das irgend jemandem (oder gar dem Absender der Mail) zu erzählen. Oder daß ich mit einer schwarzen Gewitterwolke über dem Kopf das Haus verlasse, beispielsweise um den Müll wegzubringen, und dabei zufällig der einen Nachbarin über den Weg laufe, die mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zuquatscht (ich muß die Frau irgendwann mal fragen, ob sie wirklich sicher ist, daß sie Finnin ist, denn die sind ja normalerweise eher schweigsam), und die mich daraufhin so intensiv zuquatscht, daß die Gewitterwolke die Flucht ergreift.
Ich habe eine Freundin, mit der ich öfters per SMS kommuniziere. Manchmal schickt sie mir eine ganz kurze SMS, die womöglich nur aus einem Smilie besteht – beispielsweise zum Abschluß einer Konversation oder als Nachtrag, um mir mitzuteilen: die Sache, von der ich dir erzählt habe, ist gut gelaufen. Diese Mini-SMSe hebe ich mir nach Möglichkeit auf, damit ich sie bei Bedarf (also wenn ich irgendwie schlecht drauf bin) noch einmal ansehen und mich dann hoffentlich besser fühlen kann.
Viertens habe ich dank jahrelanger Therapie meine Depression und meine Ängste recht gut im Griff. Antidepressiva habe ich in meinem ganzen Leben erst dreimal genommen:
- Das erste Mal, als die Depression gerade diagnostiziert worden war und mein damaliger Hausarzt mit mir ausprobierte, ob ich auf Medikamente anspreche und, falls ja, auf welche. (Wie sich herausstellte, gehöre ich zu den Leuten, bei denen Antidepressiva der üblichen Typen so gut wie gar keine Wirkung zeigen. Und bevor jetzt jemand auf die Idee kommt, mir Johanniskraut zu empfehlen: habe ich schon ausprobiert und nach mehreren absolut ergebnislosen Monaten wieder abgesetzt.)
- Das zweite Mal, als ich vor fast zwei Jahren eine sogenannte komplexe Trauerreaktion hatte, die mit wirklich ekligen Symptomen einherging, gegen die ich dann einen Monat lang ein eklig teures Medikament mit ekligen Nebenwirkungen nehmen mußte. (Wenn ich diese Symptome irgendwann noch einmal bekomme, werde ich lieber eine intensive Psychotherapie machen und dafür auf die Medikamente dankend verzichten. Die Psychotherapie würde zwar noch ekliger teurer, aber da ich ohne die Medikamente auch keine ekligen Nebenwirkungen hätte, würde sich das wirklich lohnen.)
- Das dritte Mal war eigentlich zeitlich vor dem zweiten Mal. Und zwar hatte ich Schlafstörungen und bekam ein mildes Beruhigungsmittel verschrieben, das „offiziell“ eigentlich ein Antidepressivum ist, das als Nebenwirkung Schläfrigkeit hat. Wenn man es in einer deutlich geringeren Dosis und immer abends vor dem Schlafengehen nimmt, verwandelt es sich sozusagen magisch in ein Beruhigungsmittel, das einem beim Einschlafen hilft (aber kein Schlafmittel im eigentlichen Sinne). Das Zeug hatte auf meine Depression nicht die geringsten Auswirkungen (natürlich nicht, bei der Dosierung), auf meinen Schlaf dafür um so deutlichere. Und zwar erfreuliche.
Glücklicherweise hat sich herausgestellt, daß die Stimulantien, die man als Mensch mit ADHS so zu sich nimmt, auch gegen Angst wirken. Oder zumindest gegen meine. (Ich habe schon seit längerer Zeit die Vermutung, daß meine Angstneurose eigentlich nur etwas ist, was sich mein hyperaktives und zur Langeweile neigendes ADHSler-Hirn sozusagen „gebastelt“ hat, um der Langeweile vorzubeugen. Diese Vermutung wird von der Beobachtung gestützt, daß meine Ängste deutlich abnahmen, sobald ich mit einer halbwegs zielgerichteten ADHS-Therapie – Methylphenidat plus explizit auf ADHS ausgerichtete Psychotherapie – anfing, während sie sich von der vorangegangenen eher auf typische Angstneurosen mit komorbider Depression (oder umgekehrt) ausgerichteten Therapie nicht im geringsten beeindruckt gezeigt hatten. Inzwischen langt als Stimulans an weniger stressigen Tagen, z. B. am Wochenende, auch eine große Tasse Grüntee zum Frühstück.)
Und sobald meine Therapeutin merkte, daß ich auf Antidepressiva eher nicht so sehr anspreche und die Depression auch keinerlei Anstalten machte, von selber wieder zu verschwinden, hat sie die Therapie dahingehend ausgerichtet, daß ich lernen sollte, mit der Depression zu leben. So habe ich über die Jahre einiges Nützliche gelernt. Unter anderem das Finden und Wahrnehmen von positiven Sachen. :-)
(Und ich habe gelernt, zu akzeptieren, daß ich anscheinend eine eher traurige Grundhaltung habe. Na und? Dann bin ich halt Bernd das Brot und nicht Chili das Schaf...)
Fünftens gehörte zu dieser Therapie (wie schon angedeutet) unter anderem, daß ich aufpaßte, was mir Freude macht – und was mir womöglich soviel Freude macht, daß ich mich damit sozusagen an meinen eigenen Haaren (wie Münchhausen aus dem Sumpf) aus einer beginnenden Depression hinausziehen kann. Und daß ich darauf achtete, von diesen Sachen immer wenigstens ein paar bei der Hand zu haben. (Das ist der „Werkzeugkasten“, den ich neulich erwähnt habe!)
Also habe ich zu Hause eine ganze Sammlung von CDs und DVDs mit Musik und Filmen, die mich irgendwie erfreuen. Und ich habe in der Küche einige Nahrungsmittel, die sich auf meine Stimmung irgendwie positiv auswirken. (Mal ganz davon abgesehen, daß ich darauf achte, immer genügend Flüssigkeit zu mir zu nehmen. Ein Bekannter eines Bekannten hat seine Depression dadurch überwunden, daß er sich angewöhnt hat, jeden Tag mindestens vier Liter Wasser zu trinken. Bei mir funktioniert das leider nicht, aber ich kann immerhin meine Stimmung drastisch verbessern, indem ich mich einfach immer hinreichend stark hydriere.) Und ich habe eine Menge Bücher, die mich in verschiedenen negativen Stimmungslagen irgendwie aufheitern oder sonstwie erfreuen. Und da, wo ich wohne, gibt es eine Menge schöne Spazierwege. Undsoweiter.
So bin ich also nicht darauf angewiesen, daß mir das Leben bzw. das Universum irgend etwas vorlegt, was mich irgendwie erfreut, sondern ich kann mir selber eine Freude bereiten, wenn ich mal eine brauche. Gut, manchmal ist die negative Stimmung soweit fortgeschritten, daß ich nicht mehr selber darauf komme, sondern einen Schubser brauche; z. B. einen Anruf von einem Freund, der mir dann sagt: koch dir doch eine Tasse Tee oder hör schöne Musik oder geh spazieren oder... Und natürlich passiert das in den seltensten Fällen, daß zufällig genau zum richtigen Zeitpunkt jemand anruft, der mir so einen guten Rat geben kann. Aber über die Jahre hat es sich ergeben, daß ich in meiner Wohnung erstens lauter kleine Hinweise auf solche Sachen herumliegen habe, die mich erfreuen könnten (da schweift mein depressiver Blick ziellos in der Gegend herum und bleibt z. B. an einem DVD-Box-Set hängen, bis mein Gehirn merkt, daß ich die Dinger ja eigentlich auch mal wieder angucken könnte), und zweitens diejenigen Sachen, die ich auch im normalen (also nicht-depressiven) Alltag brauche, immer griffbereit habe – zum Beispiel eine große Flasche Wasser oder Saft. Wie gesagt, wenn ich mich immer gut mit Flüssigkeit versorge, ist das schon mal ein solides Fundament für eine halbwegs gute Stimmung.
Sechstens: Ich weiß ganz genau, wer ich bin. Die meisten Menschen wissen das von sich nicht. Aber die meisten Menschen waren auch noch nie gezwungen, sich selbst ganz genau anzuschauen und dabei auch in die tiefen Abgründe in ihrem Innern zu sehen, weil die meisten Menschen halt weder Depression noch Angstneurose haben. Aber diese detaillierte Selbst-Kenntnis hilft mir sehr dabei, mit mir selbst und der Welt und dem Leben an sich klarzukommen. Ich habe beim Mich-Selbst-Erforschen ja auch nicht nur dunkle Abgründe gefunden, sondern auch (sozusagen) vergrabene Schätze. Und so kann man paradoxerweise sagen: Meine Depression hat mich zum Glücklicher-Werden gezwungen. Natürlich bin ich nicht ständig glücklich, aber das sind Nicht-Depressive ja auch nicht. (Es sei denn, sie haben eine unipolare Manie!)
Manchmal fühle ich mich ein bißchen wie Sara, die eine der beiden Orakel-Schwestern in American Dragon; das ist diejenige, die immer nur schlimme Sachen voraussieht und dennoch immer blendend gelaunt ist. Ihre Schwester Kara sieht immer nur gute Sachen voraus und ist immer schlecht gelaunt. Die beiden erklären das so: Kara ist immer griesgrämig, weil ihr Alltag im Vergleich zu all den tollen Sachen in ihren Visionen doch arg unbefriedigend ist. Sara dagegen vergleicht ihren Alltag (der mit dem von Kara mehr oder weniger identisch ist) mit den gräßlichen Sachen in ihren Visionen, und der Vergleich fällt natürlich sehr positiv aus, und deshalb ist sie immer fröhlich.
Siebtens: Vorbilder. Meine Mutter war ein großer Fan von Paul Gerhardt, von dem eine ganze Menge auch heute noch gesungene Lieder (vor allem Kirchenlieder) stammen; unter anderem „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“. Das muß man sich mal vorstellen: Der Mann lebte in einer postapokalyptischen Landschaft (Europa während und kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg, in dem ja ganze Dörfer ausgelöscht wurden) und schrieb Gedichte über die Schönheit von Tulpen... Solche und ähnliche Gedanken haben mir schon durch so manche depressive Phase geholfen und mich auch angeregt, selber mal zu versuchen, in meiner „postapokalyptischen Landschaft“ meine eigenen „schönen Tulpen“ zu finden.
(Wenn wir schon mal bei christlicher Dichtung sind, kann ich auch noch meine Bibel herauskramen: Wenn die Autorenzuordnung bei den Psalmen akkurat ist, dann kann ich mich außer an den Liedern und Gedichten von Paul Gerhardt auch daran trösten, daß der offenbar tief depressive Mensch, der den 69. Psalm geschrieben hat (die ersten paar Verse enthalten eine blumige, aber sehr treffende Beschreibung einiger typischer Depressionssymptome), derselbe war, der auch den 23. Psalm („Der Herr ist mein Hirte“) geschrieben hat.)
Und last but not least: Ich bin Meisterin im Verdrängen. ;-) Das schiebe ich wieder auf das gute alte ADHS... Wenn man hinreichend schnell von hinreichend vielen Sachen abgelenkt wird, fällt das, woran man ursprünglich dachte, irgendwann aus dem Arbeitsspeicher hinaus. Das ist oft natürlich (gelinde gesagt) nicht so furchtbar wünschenswert; aber wenn das, woran man ursprünglich dachte, hinreichend nervig (oder furchterregend oder deprimierend) ist, kann es echt praktisch sein...
Aber das habe ich ja schon oben unter „Erstens“ erwähnt. Soviel zum Thema Ablenkbarkeit... m(
Nachtrag: Das kryptische Knoddelzeichen am Ende des letzten Absatzes ist ein Smilie, das sich frustriert mit der Hand auf die Stirn haut.