Sonntag, 1. Mai 2011
Allein ist nicht dasselbe wie einsam
Themen: Neuro-Psycho
Zu diesem Thema muß ich mir noch mehr Gedanken machen. Das hier ist jetzt nur so mehr oder weniger ins Blaue gedacht.

Auslöser war eine Diskussion auf Twitter, die wiederum von einem Rundfunkbeitrag über Autismus ausgelöst wurde, in dem es zwar vordergründig darum ging, für mehr Verständnis für Autisten in der „normalen“ Welt zu sorgen, wo sie dann aber wirklich kaum ein Klischee ausgelassen haben.

Beim ersten Anhören fand ich den Beitrag gar nicht so schlimm. Anscheinend besitzt mein Gehirn einen Filter, in dem die ganzen üblen Klischees und Pauschalisierungen hängen bleiben, wenn mich nicht gerade jemand direkt darauf hinweist. ;-)

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Lustig: Auf schwedisch werden die Grenzen zwischen den Wörtern und Konzepten ganz anders gezogen als im Deutschen. Ensam hat viele Bedeutungen, unter anderem „einsam“ und auch „allein“, aber in bestimmten Kontexten kann es sogar „der/die/das einzige“ oder „ausschließlich“ bedeuten. Wenn ich sage, daß ich „ensam“ wohne, wird das zuallererst einmal als „ich habe keine Mitbewohner“ verstanden. Wenn ich ausdrücken will, daß ich mich einsam fühle, muß ich mich ein bißchen anstrengen und beispielsweise einen Ausdruck wie övergiven („verlassen“) benutzen.

Gleich auf der ersten Seite ihres Buches „Vem ska trösta knyttet?“ verwendet Tove Jansson innerhalb von nur zwei Zeilen das Wort ensam in gleich drei verschiedenen Bedeutungen: Der Protagonist der Geschichte wohnt (erstens) ohne Mitbewohner in einem (zweitens) abgelegenen Haus und fühlt sich abends immer (drittens) ganz einsam.

Im Finnischen gibt es das schöne Wort orpo, das als Substantiv „Waise“ bedeutet und als Adjektiv „einsam und verlassen“. Also im Sinne des Sich-so-Fühlens, nicht des Der-Einzige-im-Zimmer-Seins.

Hach, Fremdsprachen sind etwas Schönes. :-)

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Wenn ich mich einsam fühle, und das kommt manchmal vor, dann fühle ich mich vom Rest der Welt abgeschnitten. Manchmal habe ich dann das Gefühl, die Welt gäbe es gar nicht, oder es gäbe sie zwar, aber sie hätte mit mir nichts zu tun. Manchmal fühlt es sich eher so an, als ob in der Welt nichts und niemand wäre, was/wer irgendwie mit mir zu tun hätte, daß ich also buchstäblich „einsam und verlassen“ wäre.

Naja, „orpo“ eben.

Aber das ist ein Depressionssymptom. In den meisten Situationen, wo ich ganz allein bin, fühle ich mich ziemlich wohl und gar nicht einsam.

Leider verstehen das viele Leute nicht. Was mich wirklich erschreckt hat: Bei einem Fachvortrag fragte mich eine Psychologin (!) im Publikum ganz ungläubig, ob ich das ernst gemeint hatte, als ich gesagt hatte, daß meine beste Freundin in Österreich wohnt (also in Pi mal Daumen 1000 km Entfernung), und wie das denn sein könne, daß jemand, der so weit weg wohnt, meine „beste Freundin“ sein könnte.

Ähm. Hat diese Frau denn noch nie von Telefon und Internet gehört? Muß ich wirklich jemandem ständig physisch auf der Pelle sitzen, um ihm zu zeigen, daß ich auch weiterhin mit ihm befreundet sein will?

An vielen Tagen besteht für mich das ganze Ausmaß an Kontakt mit der Außenwelt darin, daß ich
  • aus dem Fenster gucke und draußen Leute sehe und
  • ab und zu Geräusche im Treppenhaus höre, wenn ein Nachbar weggeht oder heimkommt, und
  • wenn ich die Ohren spitze, das leise Gemurmel des Radios in der Nachbarwohnung wahrnehme (falls die Nachbarin zu Hause ist) und
  • im Internet z. B. Zeitung lese (die ja vermutlich von irgendwem geschrieben wurde)
... und so richtig eng wird dieser Kontakt, wenn mir jemand beispielsweise eine Mail schickt oder ich (neuerdings) irgendwelche Tweets nicht einfach nur ziellos in die Welt hinausschicke, sondern auf einen Tweet von jemandem antworte oder jemand auf einen Tweet von mir antwortet.

Und ich fühle mich nicht einsam. Ich fühle mich ungestört.

Daß es andere Leute gibt, zu denen ich bei Bedarf womöglich sogar Kontakt aufnehmen kann, merke ich ja daran, daß ab und zu aus dem Treppenhaus Schritte oder Gesprächsfetzen in meine Wohnung dringen. Und am nachbarlichen Radio-Gemurmel. Und an den Leuten vorm Fenster.

Fast direkt unterhalb meines Küchenfensters ist ein Spielplatz. Für manche anderen Leute wäre das ein Grund gewesen, nicht in diese Wohnung einzuziehen... Ich find’s aber toll, wenn ich im Sommer das Fenster auf habe und höre, wie draußen die Kinder spielen. Manchmal wird das sogar ziemlich laut, weil sie sich ja nicht unbedingt an die Grenzen des Spielplatzgeländes halten, sondern auch mal auf die Wiese direkt unterm Fenster laufen und dort weiterspielen. (Hier ist das Betreten des Rasens nämlich nicht verboten, und das ist auch gut so.)

An vielen Tagen wird mein Bedarf an zwischenmenschlichem Kontakt durch Kinderlachen oder Radiogemurmel vollständig gedeckt.

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Daß es auf Mittsommer zugeht, merke ich im Sommer immer daran, daß es draußen auf einmal so still ist. Klar; die Kinder sind alle mit ihren Eltern ein oder zwei Wochen aufs Land gefahren.

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Mein Großonkel, ein notorischer Eigenbrötler, zitierte immer Wilhelm Busch: „Wer einsam ist, der hat es gut / weil keiner da, der ihm was tut.“

Schopenhauer drückt es ohne Reim so aus: „Ganz er selbst sein darf jeder nur, solange er allein ist. Wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit; denn nur wenn man allein ist, ist man frei!“

Von Schopenhauer gibt es auch noch ein etwas drastischeres Zitat zum Thema: „Was nun andererseits die Menschen gesellig macht ist ihre Unfähigkeit, die Einsamkeit, und in dieser sich selbst, zu ertragen.“

Mir tun diese Leute leid, die es nicht schaffen, auch nur wenige Minuten allein mit sich selbst zu verbringen. :-(

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In irgendeinem Psychologiebuch habe ich mal gelesen, daß introvertierte Menschen (huiiii, da schreibt jemand über mich!) in ihrem Kopf ständig einen „inneren Monolog“ am Laufen haben und extrovertierte Menschen haben entweder keinen solchen Monolog im Gehirn oder sie nehmen ihn nicht wahr; ganz genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern.

Ich kann mir das gar nicht vorstellen, wie es wohl ist mit solcher Stille im Kopf. Das wäre für mich schrecklich und hätte ziemlich viel mit Einsamkeit zu tun.

Andererseits würde es natürlich erklären, warum es Extrovertierten so schwer fällt, selbst für kurze Zeit „mit sich selbst allein“ zu sein... die haben dann ja im Gegensatz zu uns Introvertierten nicht einmal sich selbst zur Gesellschaft! Die Ärmsten. :-(

In meinem Kopf ist dieser „innere Monolog“ oft eher ein angeregtes Gespräch als ein Monolog im engeren Sinne. Das ist nicht leicht zu beschreiben... Es gab mal eine britische Zeichentrickserie namens Captain Star, wo eine der Hauptfiguren nach einem Unfall mit irgendwas Radioaktivem mutiert war und seitdem neun Köpfe und sechs Arme hat. Diese neun Köpfe unterhalten sich oft untereinander und lassen sich dabei nicht im geringsten von der Tatsache stören, daß sie ja eigentlich zur selben Person gehören und nur recht selten unterschiedlicher Meinung sind.

So ähnlich hört sich das in meinem Kopf an. Wie kann man da einsam werden? :-)

(Fortsetzung folgt... eventuell.)