Dienstag, 19. April 2011
Ein kleiner Blick in mein Hirn
Themen: Neuro-Psycho
Iiiiih, lauter graues Glibberzeug. ;-)

Ein Bekannter von mir, der mit einer Medizintechnikerin verheiratet ist, hat tatsächlich ein paar computertomographische Bilder seines Hirns im Büro hängen – „für die Zweifler“, sagt er.

Aber keine Sorge, von mir kommen jetzt keine gruseligen Bilder aus der Anatomie, sondern wie üblich ein längerer Wortschwall. Ich mache mich jetzt sozusagen ein wenig nackig. Angeblich ist das ja der Sinn eines Blogs, oder das behaupten zumindest einige Leute... Nun ja. Ich will lieber nicht wissen, was diese Leute in ihren Blogs schreiben...

Jedenfalls war ich letzte Woche wieder mal bei meinem Psychiater, aber diesmal für eine Weile zum letzten Mal. (Schade eigentlich. In seiner Praxis fühle ich mich sehr wohl; wenn der Mann nicht so furchtbar teuer wäre, würde ich mir öfters eine Ausrede ausdenken, um da nochmal hinzugehen. Er hat nämlich unglaublich viele Bücher herumstehen, und weil er recht, äh, eklektische Interessen hat – ich habe ihn im Verdacht, nicht nur ADHS-Spezialist zu sein, sondern selber auch ADHS zu haben –, stehen da Wörterbücher, Politikerbiographien, Krimis sowie theologische, medizinische und psychologische Fachliteratur ganz friedlich nebeneinander. Einige Bücher haben wir sogar gemeinsam. Aber ich schweife ab.)

Zurück zum Thema: Ich bin jetzt bis Ende des Jahres krankgeschrieben und der Arzt hat für mich eine Kur in einer Tagesklinik in Helsinki beantragt – das heißt, da geht man morgens hin, wird irgendwie behandelt und kriegt auch ein Mittagessen, und abends geht man wieder heim, und das halt über längere Zeit hinweg (je nach Fall mehrere Wochen oder auch länger) regelmäßig, bis zu fünfmal pro Woche. Ziel der Behandlung: Volle Wiederherstellung meiner Arbeitsfähigkeit vor Jahresablauf.

Drückt mir die Daumen, daß die Krankenkasse das genehmigt. Sollte sie ja eigentlich tun, wenn sie rechnen kann: Wenn ich auf unbestimmte Zeit weiter krankgeschrieben bleibe, heißt das, daß ich der finnischen Staatskasse auf unbestimmte Zeit auf der Tasche liege. Wenn ich behandelt werde und danach wieder arbeiten gehe, muß die finnische Staatskasse zwar zuerst etwas mehr in mich investieren, als wenn ich nur zu Hause herumsitze, aber danach zahle ich ziemlich bald wieder Einkommenssteuer, und zwar (wenn sie sich mal meine Steuererklärungen der letzten 10 Jahre angucken) nicht zu knapp. Also bitte, lieber Sozialstaat: Jetzt etwas in Julia investieren und sich auf die zusätzlichen Steuereinnahmen freuen. <augenaufschlag>

Aus diesem Anlaß hat der Arzt über mich ein psychologisches Gutachten angefertigt, das meinen jetzigen Zustand, aber auch meinen früheren (Normal-) Zustand beschreibt. Er kennt mich ja schließlich schon seit Jahren und hat mich im Lauf der Zeit auch schon öfters als Nicht-Depressive (bzw. nicht akut Depressive) erlebt.

Dem Gutachten zufolge ist mein jetziger Zustand in etwa so [meine Kommentare in eckigen Klammern]:
  • Die Depression hat nachgelassen, ist aber immer noch mittelschwer. [Für mich fühlt sich das in etwa so an: Im Herbst war die Welt FIES und GEFÄHRLICH. Jetzt ist sie nicht mehr ganz so fies, aber doch immer noch ein bißchen, und auch noch ziemlich gefährlich und irgendwie bedrohlich. Immerhin nicht mehr in Großbuchstaben.]
  • Ich habe Probleme damit, Sachen anzufangen. [So ein blöder unhandlicher Ausdruck. Im Finnischen ist das ein einziges Wort, und noch dazu ein relativ kurzes: aloitekyky, die Fähigkeit, Sachen anzufangen.] Selbst wenn es scheinbar kleine und einfache Sachen sind, z. B. Müll rausbringen. [Das ist ganz typisch bei Depressiven. Natürlich ist das ein Teufelskreis: Ich habe heute schon wieder nicht den Müll rausgebracht; meine Güte, nicht mal dazu bin ich in der Lage; ich bin ja soooo dumm und soooo faul und soooo unfähig; und das füttert dann die Depression und man schafft noch weniger. Und fühlt sich daher noch doofer. Und wird noch depressiver. Undsoweiter.]
  • Ich habe Probleme damit, meine Tage (oder grundsätzlich Zeitabläufe) zu strukturieren – habe ich als ADHSlerin ja sowieso, aber durch die Depression wurde das bißchen Struktur, das vorhanden war, stark beschädigt. Aber inzwischen schaffe ich es, eine eigene Struktur aufzubauen, und zwar mit der Hilfe diverser elektronischer Gadgets und Applets usw., die mich zu bestimmten Uhrzeiten oder in bestimmten Abständen [„ah, wieder eine Stunde rum“] anpiepsen.
  • Ich hatte in den letzten Monaten keine Panikattacken mehr, aber die Angst ist immer noch ständig sozusagen als Hintergrundrauschen vorhanden. Ich bin aber soweit „beieinander“, daß ich die frühen Anzeichen einer kommenden Panikattacke schon aus einer gewissen Entfernung sehe und dann Gegenmaßnahmen treffen kann.
  • Mein Schlafrhythmus ist auf dem Weg zurück zur Normalität. Ich habe zwar fast jede Nacht sehr lebendige und sehr seltsame Träume, aber keine Alpträume. [Ich habe ja grundsätzlich extrem selten mal einen Alptraum, aber im Moment sind meine Träume teilweise wirklich extrem seltsam.]
  • Ich kann mich immer noch nicht besonders gut konzentrieren und u. a. nicht viel auf einmal lesen, selbst wenn es sich um einfache und/oder bereits bekannte Texte handelt. [Das ist normalerweise eigentlich eine der Methoden, mit denen ich mich in Krisenzeiten beruhige: irgendein Buch, das ich schon x-mal gelesen habe und stellenweise fast auswendig kann, zum x+1-ten Mal lesen.]
  • Ich bin anhedonisch, das heißt, meine Emotionen bewegen sich in einem sehr engen Rahmen. [Das hat den Vorteil, daß ich trotz Depression nicht dauernd am Weinen bin, aber den Nachteil, daß ich auch keine große Freude auf die Reihe kriege, selbst wenn mir etwas wirklich Schönes passiert.]
  • Ich habe keine Selbstmordgedanken. [Und das ist auch gut so.]
  • Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit, das ich vor einigen Monaten noch ständig hatte, hat nachgelassen, aber von Zeit zu Zeit kommen mir Annihilationsängste. [Das heißt, daß ich das Gefühl habe, nicht mehr lange zu leben; nicht aus einem bestimmten Grund, ich denke also nicht beispielsweise, ich würde verhungern oder ich hätte eine gräßliche Krankheit; ich habe einfach nur den überwältigenden Eindruck, ich würde in ein paar Monaten nicht mehr existieren. Mich in Nichts auflösen oder so. Oder die Zukunft würde einfach nicht existieren. Sehr unangenehm, sowas.]
  • Außerdem habe ich zur Zeit Intrusionen, also sich mir ungebeten aufdrängende Gedanken, die durch teils sehr schwache Sinnesreize ausgelöst werden, z. B. durch ein Wort oder einen Geruch. Da kommen mir dann sehr plötzliche und sehr lebendige Erinnerungen an Deutschland, v. a. an meine Kindheit. [Das ist nicht unbedingt immer unangenehm, kann aber ganz schön verwirrend sein. Vor allem, wenn ich den auslösenden Reiz identifizieren kann und mich dann frage, warum Apfelgeruch mich ausgerechnet an Weihnachten erinnert. Und warum es in meiner Küche nach Apfel riecht, obwohl ich doch Äpfel eher selten esse.]
  • Und dann bin ich noch zerstreut.
  • Meine Stimmung ist stark von äußeren Einflüssen abhängig. [Also wenn ich gut oder schlecht gelaunt bin, kommt das meistens nicht aus mir selber heraus, sondern daher, daß ich gerade etwas Angenehmes oder Unangenehmes gesehen habe oder mir gerade etwas Angenehmes oder Unangenehmes passiert ist. Immerhin bin ich in der Lage, mir schlechte Laune auch selber zu machen, aber das ist ja eigentlich nichts, worauf man stolz sein sollte. Ich will endlich mal wieder auch gute Laune selber machen können!]
  • Ich will wieder arbeiten, aber ich kann mich an den meisten Tagen nicht einmal dazu aufraffen, mir Straßenkleidung anzuziehen.
  • Ich habe manchmal absurde Gedanken über (eingebildete) Katastrophen, die mich ereilen werden: „ich krieg nie wieder Arbeit, ich werd verhungern“. [In Bev Aisbetts schönem Büchlein „Living with IT. A Survivor’s Guide to Panic Attacks“ ist eine Zeichnung, auf der eine Frau durch eine scheinbar logische Gedankenkette von „ich bin zu spät dran mit diesem Bericht“ zu „und wenn dann der Atomkrieg anfängt, bin ich ganz allein“ kommt. So ungefähr funktioniert das. Und nein, das ist auch nicht angenehm.]
Aber mein Normalzustand sieht seiner Meinung so aus:
  • gut orientiert
  • sachlich
  • lebhaft
  • von Natur aus optimistisch [öh... wer, ich?]
  • intelligent
  • Perfektionistin
  • schnelle Auffassungsgabe
  • überdurchschnittliche Leistungsfähigkeit
(Wozu ich noch anmerken will, daß Perfektionismus und hohe Leistungsfähigkeit eine blöde Kombination ist, weil man dann wegen dieses blöden Perfektionismus die eigene Leistungsfähigkeit ständig kleinzureden versucht.)

Er ist außerdem der Meinung, meine Berufslaufbahn sei „tadellos“, was wohl amtsdeutsch (bzw. amtsfinnisch) ist für „hat noch nie eine Arbeitsstelle durch eigenes Verschulden verloren“ oder etwas in dieser Art. <rätsel>

Und dann schreibt er noch, daß mein Über-Ich sadistische Züge aufweist. Hmm, das war mir ja neu, und ich weiß auch nicht, wie das zustandegekommen ist (die Autoritätspersonen in meiner Kindheit waren alle eher lieb), aber es würde schon einiges erklären. :-P

Heute fühle ich mich übrigens eher hypomanisch. Ob das an der Kombination aus Antidepressivum, Grüntee, Chili (in meinem Frühstücks-Thunfisch) und diesem verflixten Frühlingswetter liegt? Das sollten die auf den Beipackzettel schreiben: Vorsicht, bei schönem Sonnenwetter ist der Patient auf hypomanische Symptome zu überwachen. Vor allem, wenn die Vögel zwitschern.